Von Rollenbildern, Geschlechtern & Identitäten

Interview
Bist du dir manchmal unsicher, wie du dich verhalten solltest, wenn du einer Person z.B. keine konkreten Geschlechterrolle zuordnen kannst? Fragst du dich, was Rollenbilder sind, wie sie entstehen und wie es zum sogenannten Rollenstress kommt? Oder möchtest du wissen, welche Vorteile sich hinter einem offenen Weltbild verstecken? Diese und weitere Fragen werden dir in diesem Interview-Gespräch mit dem Soziologen Prof. Dr. Matthias Quent beantwortet.

Was verstehen wir unter Rollenbildern?

Rollenbilder sind die Vorstellung von Rollen, die Menschen einnehmen können oder auch einnehmen sollen. Also erstmal: Was ist eine soziale Rolle? Wir alle haben viele Rollen. Eine Rolle kann sowas sein wie eine berufliche oder eine familiäre Rolle (z.B. ich bin Sohn, Vater, Bruder, Onkel). All sowas sind auch Formen von Rollen und zu diesen sozialen Rollen, also letztlich zu bestimmten Funktionen oder Beziehungen, in denen wir zu Anderen stehen, sind Vorstellungen verbunden, wie diese Rollen denn ausgefüllt werden sollten. Oder wie sich diese Rollen konstituieren. Das heißt: Die Existenz von (vielen) Rollen in einer Person ist erstmal etwas ganz normales und auch, dass es bestimmte Muster gibt, wie eben solche Rollen verübt oder ausgefüllt werden sollen. Das ist gesellschaftlich normal in einer Art und Weise, als dass es immer wieder gesellschaftlich erzeugt wird. Und dann kann es zu der Situation kommen, dass Rollen Stress bedeuten. Also das die vorhandenen Bilder in der Gesellschaft über spezifische Rollen, z.B. Wie hat eine Frau auszusehen? Wie hat sich ein Mann zu verhalten? Was muss ein Chef nach außen repräsentieren? Welche Form von Verhalten sind innerhalb von bestimmten Rollen als Norm erwünscht und vorgesehen? dazu führen kann, dass es Stress gibt, weil man Angst hat, diese Rollen nicht befriedigen, also diese Erwartungen nicht erfüllen zu können. Und dann sprechen wir über sogenannte Rollenbilder – Bilder zeigt ja schon, dass es eigentlich eine Kopie bzw. ein Ideal ist. Über vielen Bildern liegen gerade heutzutage Filter, also die Bilder geben ja gar nicht die Wirklichkeit wieder, die viel vielschichtiger ist, sondern idealtypische Darstellungen. Viele Menschen können und wollen diese Idealtypen nicht erreichen. Also bestimmte Bildvorstellungen, die gerade von jungen Frauen in der Öffentlichkeit präsentiert werden, wenn Gesichter oder Körper auf Instagram durch Filter verschönert werden und man sich möglichst ideal auch in der Öffentlichkeit präsentiert sehen will. Dann führt das dazu – das wissen wir aus Studien – dass junge Mädchen beispielsweise in einem Rollenstress sind. Sie können das Ideal nicht erreichen. Das führt zu psychologischen Problemen, zu Krankheiten bis hin zu Selbstmord. Und an solchen Beispielen sieht man sehr deutlich, dass Rollen eben nicht nur etwas sind, was Orientierung stiften kann, sondern auch sehr destruktiv bzw. toxisch, also menschengefährdend sein kann und sie an ihrer Entfaltung hindert. Und das klassischste Modell davon sind Rollenbilder, also z.B. die Frau gehört an den Herd, sie ist für die Erziehung, die Pflege, die sogenannte Care-Arbeit zuständig. Das ist wahrscheinlich so eines der dominantesten Rollenbilder. Während auf der anderen Seite der Mann für das Geld, die Versorgung, sowie die Lebensgrundlagen verantwortlich ist. Und beides sorgt eben für Rollenstress und führt auch zu Konflikten zwischen diesen Rollen, aber auch zwischen Rollen, die eine Person einnehmen kann. Also eine Mutter, die gleichzeitig werktätig ist und eine gute Frau für ihren Mann sein will – nach ganz klassischen Vorstellungen. Sie hat ja eigentlich drei Jobs, von denen zwei unbezahlt sind. Also das führt zu einer ganz enormen Belastung und einem enormen Rollendruck bzw. -stress. Und deswegen gibt es auch so viele Menschen, die sich aus gutem Grund von solchen Rollenvorstellungen emanzipieren und davon lösen wollen.

Inwieweit sind Rollenbilder menschengemacht? Was ist, wenn es noch gar nicht die Vielfalt an Rollen in der Gesellschaft gibt, die eigentlich nötig wäre?

Rollen sind immer menschengemacht. Man kann sich das vorstellen wie Trampelpfade in einem Feld. Wenn jemand schonmal da langgelaufen ist, habe ich eine Vorstellung, wie der Weg aussehen könnte. Ich laufe dort entlang, der Weg wird immer ausgetrampelter, immer mehr Menschen gehen den Weg da lang, weil sie denken das sei der Weg. Es kann aber sein, dass der Weg auf verschiedenen Wegen durch das Feld geht und man sieht nur das Ziel aber nicht das, wo noch niemand langgelaufen ist. Rollenbilder erzeugen Vorstellungen von Normalität, die aber gesellschaftlich erzeugt sind. Sie sind nicht natürlich. Es gibt keine natürliche, biologischen, ganz klare Rollenverteilungen. Natürlich sind Personen mit Gebärmutter diejenigen, die Kinder austragen (sozusagen in der biologischen Zuschreibung). Aber da hört es dann ein stückweit auch schon auf. Und alles andere ist von Kindertagen an gelernt: Was für Spielzeuge werden für Mädchen und Jungen angeboten? Für Frauen gibt es dann Familie, Puppen, Küchen, Einkaufsladen und für Männer gibt es z.B. Action-Figuren, Autos und Handwerkszeug. Das sind Dinge, die gesellschaftlich erzeugt und gelernt werden. Dieses soziale Geschlecht, dass als Gender beschrieben wird, um bei dieser Rolle zu bleiben, ist nichts, was da ist. Sondern es ist etwas, was gemacht wird. Es wird sozial hergestellt und deswegen kann es auch ganz anders hergestellt und anders gelebt werden. Es können sich ganz andere Rollen entwickeln. Und das ist etwas, was wir eigentlich spätestens seit den 1960er Jahren ganz verstärkt sehen. Aber in Wirklichkeit gab es in der Geschichte der Menschheit ganz viele unterschiedliche Rollenbilder und Rollenformate in unterschiedlichen Kulturen zu unterschiedlichen Zeiten, wo solche Fragen wie die geschlechtlichen Unterschiede häufig gar keine zentrale Rolle gespielt haben.

Was für Folgen hat es, wenn ich auf der Suche nach einer Rolle bin oder mich in einer ganz anderen Rolle sehe, aber diese Nische noch nicht da ist (wie z.B. bei queeren und transgender Personen)?

Also einerseits muss man hier nochmal unterscheiden zwischen einer Identität, also das, was ich im innersten bin und so wie ich mich empfinde bzw. wahrnehme und auf der anderen Seite, das was ich als Rolle versuche zu erfüllen. Und ob die Tatsache, dass ich mich als Person, obwohl ich z.B. in einem biologisch männlichen Körper geboren bin und fühle, dann trotzdem eine Rolle spiele, um die gesellschaftlichen Konventionen zu erfüllen, ein Mann zu sein. Oder sich dann nochmal auf die andere Seite sozusagen – auch äußerlich – in der Ausdrucksweise und im Auftreten umzuleben. Das ist die Art und Weise, wie Identität durch bestimmte Rollenbilder geschaffen wird. Dort, wo es noch keine populären Rollenbilder gibt, fehlt es an Blaupausen, also an einer Orientierung. Rollen sind fließender und können sich – anders als Identitäten – schneller in andere Rollenbilder verändern bzw. entwickeln, die so in der Gesellschaft noch nicht vorgesehen waren. Rollen haben einerseits den Vorteil, dass sie eine große Freiheit haben, weil sie von all diesen Zuschreibungen und all dem Druck, der in bestimmten Erwartungen wohnt, entlastet sind. Auf der anderen Seite ist der Widerstand natürlich viel größer, wenn es keinen Platz gibt, z.B. weil es keine Toiletten gibt, die für mich vorgesehen sind und ich nicht weiß, wie ich mich in dieser Binarität entscheiden soll. Wenn beides nicht so richtig passt, was das zwischen Frau und Mann unterscheidende System vorgibt. Und das sorgt natürlich für Konflikte und vor allem auch für eine ganze Menge von Diskriminierung und Abwehr bzw. Abwertungen bei anderen Menschen. Wir Menschen tendieren dazu: Wir wollen es ordentlich sortiert haben. Wir wollen nicht, dass unsere Vorurteile erschüttert werden. Sondern wir wollen, dass die Dinge in die Muster passen, die wir kennen. Und wenn Dinge auftauchen, die da nicht reinpassen, dann gibt es die Tendenz zu versuchen – und so war es in der Geschichte immer – z.B. transgender Personen mit Gewalt dann doch in eine der beiden Kategorien hineinpressen zu wollen. Oder auch in Frage zu stellen, dass sie überhaupt eine Existenzberechtigung haben, dass das überhaupt etwas auch natürliches und menschliches sei. Wir versuchen, das im Grunde zu eliminieren.

Wie kann ich mir denn selber bewusst machen, dass ich jemandem gerade eine bestimmte Rolle zuschreiben möchte? Und wie kann ich mich verhalten, wenn ich mir unsicher bin, weil ich eine Person z.B. nicht in einer bestimmten Rolle zuschreiben kann?

Im Umgang mit anderen ist der offene Weg des Nachfragens, auch des bewusst selbstreflektiven Nachfragens von Vorteil, also zu sagen: Ich fühle mich gerade unsicher. Sag doch mal, wie möchtest du angesprochen werden? Einen offenen Umgang zu pflegen ist das Wichtigste. Und offen sein für Wünsche und Rollen- bzw. Identitätsvorstellungen von anderen. Und gleichzeitig im vermeintlich alltäglichen Handeln auch zu hinterfragen: Was wird mir eigentlich gerade vermittelt (z.B. beim Blick auf die Werbeanzeige, bei der Auswahl der farbigen Kleidung für die Kinder oder bei der Frage, wer eigentlich in einer Sitzung die Eröffnung halten soll)? Es ist wichtig, alle bereits vorgefertigten Wege auf dem Feld immer mal wieder in Frage zu stellen: Muss das eigentlich so ein? Kann das auch anders sein? Kann man zumindest den Raum – und sei es der Raum im eigenen Kopf – für andere Vorstellungen öffnen?

Heißt das, wir können uns so auch Verständnis aneignen, um zu verstehen, dass es Menschen gibt, die sich in den „klassischen” Rollenbildern gar nicht wiederfinden?

Ja, einerseits, dass sich Menschen in diesen Rollenbildern gar nicht wiederfinden, andererseits, dass sich ja Rollen unheimlich schnell verändern. Was z.B. typisch weiblich oder männlich sei, das hat eine große Stabilität. Aber es ist auch Konjunkturen und Trends extrem unterworfen. Genauso, was z.B. die Rolle einer Führungskraft, einer Lehrerin bzw. eines Lehrers angeht. Da gibt es Veränderungen. Und es kann sein, dass die Rollenbilder aus der Zeit, in denen ich sie angenommen habe (z.B. in der Kindheit, in der Sozialisation im Jugend- bzw. jungen Erwachsenenalter), nicht mehr zur Realität passen. Also nicht nur die Rollenbilder der Anderen an sich, sondern auch die eigenen Rollenbilder müssen hinterfragt werden: Sind sie eigentlich noch aktuell oder schon aus der Zeit gefallen? Sind das nicht vielleicht meine Bilder, sozusagen Abbilder aus der Vergangenheit, die fortleben und das eigentliche Problem sind? Und nicht, dass es in Wirklichkeit viel mehr und vielfältigere Rollen in der Gesellschaft gibt und auch die entsprechenden Role Models, also entsprechende Modelle, an denen sich andere Menschen beispielsweise orientieren können.

Welche praktische Beispiele gibt es, an denen du Handlungsempfehlungen für den Alltag ableiten kannst, z.B. bezogen auf Geschlechterrollen?

Gerade die Gender-Diskussion sorgt für eine enorme Verunsicherung, weil sich Menschen einerseits öffentlich die Frage stellen: Was soll das denn überhaupt? Warum müssen wir darüber reden? Es ist doch eigentlich alles ganz klar – männlich und weiblich unterteilt. Auf der andern Seite sehen wir aber, dass gerade Jugendliche auf dem Weg, ihre Rolle bzw. Identität und Sexualität bzw. geschlechtliche Identität zu finden, heute in aller Regel viel offener und auch – wenn man so möchte – experimentierfreudiger sind, als früher. Es ist also ein riesiges Thema. Auch, weil heute mehr Rollen und Identitätsvorstellungen zur Verfügung stehen. Was habe ich davon, wenn ich mit Abwehr darauf reagiere? Im Zweifelsfall gibt es Konflikte und ich bin – im Klischee gesprochen – der alte weiße Mann, der nicht mehr mit der Zeit mitkommt. Also auch hier einen offenen Zugang zu finden, Grundlagen zu schaffen und zu sagen: Es ist z.B. in einem beruflichen Kontext überhaupt nicht von Relevanz, welche geschlechtliche Identität jemandem zu Grunde liegt. Niemand darf benachteiligt werden auf der Grundlage dessen, wie er oder sie sich generiert und präsentiert. Das heißt auch, dass man Räume schaffen muss, um z.B. darüber oder auch über ausgrenzende Positionen zu reden und sich offen damit auseinandersetzen zu können. Gleichzeitig sollte so Diskriminierung verhindert werden, also auch Dinge, die man persönlich vielleicht nicht als normal in der eigenen Sozialisation erlebt hat, heute als normal zu akzeptieren und sich nicht zu „Richter und Henker” zu erheben.

Das heißt, die Identität oder die Vorstellung meines Gegenübers im ersten Schritt anzuerkennen, zu hinterfragen (nicht: in Frage zu stellen) und so das eigene Weltbild zu öffnen?

Das wäre der zweite Schritt, das Weltbild zu öffnen, genau. Dass ich sozusagen die Existenz des anderen und seine bzw. ihre Selbstpräsentation und ihre eigene Identität als solche anerkenne. Das ist aus meiner Sicht das Minimum für erfolgreiche Kommunikation überhaupt. Wenn ich den Anderen oder die Andere in ihrer Identität in Frage stelle, dann verletze ich letztlich ihre Menschenrechte. Ich stelle sozusagen die Berechtigung dieser Identität infrage und das ist keine gute Grundlage für jegliche Form von Kommunikation. Wie ich das für mich sozusagen einordne, ob ich da sofort kein Problem damit habe oder ob ich mich dazu noch weiter informieren bzw. daran arbeiten muss, um das so richtig zu verstehen, steht eigentlich erst auf dem zweiten Blatt. Aber das Minimum ist natürlich die Akzeptanz und die Anerkennung der oder des anderen in jeglicher Form. Und der zweite Schritt kann bzw. sollte dann sein, zu hinterfragen: Warum ist das eigentlich so? Kann ich nicht vielleicht davon viel mehr lernen? Kann ich mich in meiner Identität vielleicht auch weiterentwickeln, um festzustellen, dass vieles, was mir Druck gemacht hat, eigentlich unbegründet ist? Und dass ich eine größere Offenheit diesbezüglich zulassen kann.

Was ist positiv daran, jeder einzelnen Identität (unabhängig von vorgefertigten Rollenbildern) ihren Raum zu geben?

Erstens ist es natürlich die normative Achtung der Menschenrechte, dass jede und jeder sich frei entfalten kann. Das geht mit einer Förderung von kreativen Potentialen einher, wenn nicht zu viel eingeschränkt, beschnitten und unterdrückt wird. So können Menschen ihre Potentiale entfalten und ihre Kreativität, Gestaltungskompetenzen und Stärken mobilisieren und nutzen. Das ist etwas, das wir für die Gesellschaft aber auch in Unternehmen, in Schulklassen oder im Studium wollen. Dass man voneinander lernen und sich miteinander weiterentwickeln kann. Und wenn alle immer nur denselben Weg entlangtrampeln, dann gibt es keine Form der Weiterentwicklung oder des Dazulernen. Das ist eine Art Herdenverhalten.

Würde das im Endeffekt vielleicht sogar zur Stagnation führen?

Es führt zu Stagnation und zu Stillstand. Es führt aber auch zu Konflikten, wenn ich es nicht anerkenne, dass Menschen etwa andere geschlechtliche Identitäten haben und für sich reklamieren. Wenn ich mich der Realität verweigere, ändert das ja die Realität nicht, sondern ich stelle mich ein Stück weit außerhalb der Realität und kann sie damit auch eigentlich nicht mehr produktiv mitgestalten und mitwirken – ganz im Gegenteil. Ich kultiviere Konflikte, die eigentlich unnötig sind, weil wir in ganz vielen Beispielen sehen, dass eben auch etwa Transgeschlechtlichkeit ganz normal dazugehört.

Das waren eine Reihe an Informationen rund um Rollenbilder und wie diese gesellschaftlich verankert sind. Beschäftigt oder belastet dich dieses Thema zur Zeit, z.B. weil du selbst in deiner Rolle als Elternteil, Arbeitnehmer:in, Führungskraft, Partner:in oder als Mitglied der LGBTQIA+ Gemeinschaft Druck und Stress empfindest? Dann sprich gerne mit den hier hinterlegten (psychologischen) Ansprechpersonen. Sie unterstützen dich gerne – auf Wunsch auch anonym – und stehen dir jederzeit mit offenen Ohren zur Seite!
Dieser Artikel wurde von Evermood erstellt und zuletzt am aktualisiert.
Schweizerische Post

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