Rechtsradikale Angriffe: Ein Betroffener erzählt

Interview
Fragst du dich, welche Ausmaße rechtsradikale Gewalt haben und wie diese aussehen kann? Möchtest du wissen, welche Empfindungen Betroffene von Gewalt haben? Oder fragst du dich, was Betroffenen helfen kann, besser mit ihrer Situation zurechtzukommen? In diesem Interview schildert Matthias Quent die Zeit, in der er als Jugendlicher in Ostdeutschland von rechtsradikaler Gewalt betroffen war.
Wichtiger Hinweis: In diesem Gespräch werden reale Gewalterfahrungen geschildert. Wenn du selbst von Gewalt betroffen bist oder warst, stehen dir die hier hinterlegten psychologischen Ansprechpersonen gerne – auf Wunsch auch anonym – zur Verfügung. Des Weiteren kannst du jederzeit eine Beratungsstelle oder -hotline kontaktieren, wenn du mit jemandem unverfänglich sprechen möchtest.

Willst du uns einmal in die Zeit zurück nehmen, wo das angefangen hat bzw. wie du aufgewachsen bist?

Ich persönlich habe die ersten Gewalterfahrungen gemacht, da war ich 13 bis 14 Jahre alt. Ich bin aufgewachsen in einer ostdeutschen Mittelstadt in Thüringen. Und damals um die Jahrtausendwende waren Neonazis allgegenwärtig, also als solche erkennbar. Damals noch stark geprägt durch die Skinhead-Szene. Und als Gymnasiast, der mit längeren Haaren, mit einem T-Shirt der Toten Hosen in so einer alternativen Jugendgruppe unterwegs war, bin ich wirklich regelmäßig mit neonazistischer, rechtsextremer Gewalt konfrontiert worden – in ganz unterschiedlichen Situationen. Mir wurde mehrfach die Nase gebrochen. Das waren Überfälle. Wir wurden vor der Schule abgefangen von Nazis, die an der Bushaltestelle gewartet haben, uns mit Steinen und Eisenstangen überfallen haben. Wenn wir abends dann mit 16 bis 17 weggegangen sind am Wochenende, sind Gruppen von Neonazis, die älter waren, mit Autos durch die Städte gefahren, oder durch unsere Stadt gefahren – ich weiß, dass es in anderen Regionen auch so war – und haben geguckt, wenn sie Opfer finden, sind aus dem Auto gesprungen, haben uns verprügelt, sind wieder ins Auto reingesprungen und sind weggefahren und geflüchtet. Das heißt es war etwas, dass tatsächlich in meiner Jugend für mich normal war. Es war ein normaler Zustand überall zu gucken: „Gibt es hier eine Gefährdung?“. Und auch ein normaler Zustand, dass im Bus Nazis auf mich losgehen mit einer Schere, mich festhalten, mir die Haare abschneiden und ringsum sitzen 20 bis 30 Leute, die einfach so tun, als wäre nichts, als gäbe es kein Problem. Also, diese Situation, der Übergriffe und der Gewalt – ich persönlich habe erst Jahre später gemerkt, dass das nicht normal ist, als ich in einer Situation mal darüber gesprochen habe, und dann eine Person aus Westdeutschland (klischeehaft gesprochen) in Tränen ausgebrochen ist, als sie meine Erfahrungen gehört hat. Und ich: „Warum? Das war für uns völlig normal.“ Und da habe ich erst gemerkt: Nein, das ist überhaupt nicht normal, das sind wirklich extreme Ereignisse gewesen, die ich hätte leichter verhindern können, als z.B. jemand mit einer anderen Hautfarbe. Also, das ist noch mal eine andere Betroffenheit, weil ich konnte mich auch verstecken, mich tarnen. Menschen, die aus rassistischen Motiven angegriffen werden, können sich nicht tarnen, die stecken in ihrer Haut und sind damit Ziel von rechter Gewalt. Es ist auch nicht nur ein ostdeutsches Problem. Auch in westdeutschen Bundesländern sind in den 80er 90er und auch 2000er Jahren Menschen totgeschlagen, angebrannt, verprügelt und gejagt worden, insbesondere Menschen, die als schwach angesehen wurden: Als migrantisch, als links, als wohnungslos oder in anderen Formen nicht in rechte Weltbilder gepasst haben. Und leider schauen wir auf die Attentate von Hanau, von Halle, andere Gewalttaten, über die nicht mehr so häufig berichtet wird, aber wir wissen, dass sie täglich passieren, aus den polizeilichen Statistiken und aus den Statistiken der Opferberatungsstellen. Diese Geschichte der rechtsextremen Gewalt ist in keiner Weise irgendwie Vergangenheit, Geschichte oder abgeschlossen.

Ich habe mich gerade bei dem Vorurteil erwischt, dass ich direkt an ein rassistisches Motiv gedacht habe und mich gefragt habe: „Was sehen die in dir, warum sie dich als Opfer ausgesucht haben?“

Ja, das war auch kein rassistisches Motiv, sondern ein Motiv, dass man auf andere Jugendgruppen, auf alternative Jugendliche losgegangen ist, die eher alternativen Rock oder auch Punkrock gehört haben, oder Hippies waren. Wir hatten Gothics in der Gruppe, waren also sehr kulturell gemischt. Das war damals noch deutlich sichtbarer, als das heute der Fall ist. Das war die Feindmarkierung und eine Feindmarkierung, die in den 1990er und 2000er Jahren in Ostdeutschland schon allein deswegen für so viel Gewalt gesorgt hat, weil es ja für Rechtsextreme häufig keine anderen Opfer gegeben hat. Also, schlicht die Regionen sehr weiß sind, sehr wenig migrantisches Leben dort stattgefunden hat, nicht sichtbar war und sich abends dann auch versteckt hat. Also in Regionen mit einem sehr geringen Anteil von Migrationshintergrund hat es dann eben auch immer häufiger andere getroffen. Und auch Leute getroffen, die – auch ich in meiner Jugend – sehr früh gesagt haben, und auch nach außen gezeigt haben: Wir sind mit dieser Normalität von Nazismus überhaupt nicht einverstanden und wollen dem etwas entgegensetzen. Andersherum ist es auch tatsächlich so gewesen, dass wir mitbekommen haben, wenn die keine Opfer gefunden haben, dann haben die sich untereinander geprügelt und verprügelt. Also wirklich diese ganz massive Gewaltdimension, die da bei vielen Männern vorhanden war. Es waren vor allem Männer. Es gibt auch rechtsextreme gewalttätige Frauen, aber vor allem ist es sehr männlich geprägt gewesen. Das ist und das war damals ziemlich normal.

Wenn du dich an die Situation zurückerinnerst, gibt es noch andere Gefühle neben der Angst, an die du dich erinnerst, die du damals hattest?

Das Zentrale, was vielleicht auch noch schlimmer war als die situative Angst, ist die Ohnmacht. Also, da einfach völlig unterlegen zu sein. Also weder etwas gemacht zu haben, wofür ich berechtigterweise zur Verantwortung gezogen werden könnte, noch irgendeine Unterstützung zu erhalten aus der Gesellschaft. Häufig nicht mal von der Polizei. Wir haben die angerufen und die ist nicht gekommen, hat gesagt: „Wir haben keine Autos, wir können nichts tun.“ Und das war leider ein Normalzustand, dass der Staat nicht da war und Menschen geschützt hat. Nicht immer, einmal wurde ein rechtsextremer Schläger auch zu Jugendhaft verurteilt, der mich angegriffen hat. Aber in aller Regel kam die Polizei nicht, oder es wurden keine Täter mehr festgestellt, weil die viel schneller geflüchtet waren. Also dieses Gefühl von Ohnmacht, aber auch ein Gefühl von Gemeinschaft, weil ich war nicht der Einzige – es hat viele betroffen. Und irgendwann hat man auch angefangen sich dagegen zur Wehr zu setzen, sich irgendwie zu organisieren. Ich meine das ist heute für mich total befremdlich zu erzählen, aber für mich als Gymnasiast mit langen Haaren war es mit 16 normal mit einer Gaspistole in die Schule zu gehen, oder mit Pfefferspray, oder irgendwas, in der Hoffnung vielleicht … Ich habe das nie eingesetzt, oder auch nur die Möglichkeit gehabt, oder sowas. Aber das waren so Dinge, wie man versucht hat, irgendwie Kontrolle zu bekommen, weil man sonst eigentlich keine Unterstützung erwarten konnte.

Gab es sonst gar keine Unterstützung? Hast du das bei deinen Eltern versucht anzusprechen?

Ja selbstverständlich. Und die waren dafür auch sozusagen zugänglich, aber sie hatten dann mehr Angst um mich, als mir das eigentlich geholfen hat mit der Situation umzugehen. Weil ich wollte ja trotzdem das Leben eines Jugendlichen führen und auf Konzerte gehen, weggehen und ein soziales Leben haben. Da ist es nicht hilfreich, wenn man von zusätzlicher Angst eingeschränkt ist. Und die, die eigentlich zuständig wären, also staatliche Institutionen, für Sicherheit zu sorgen, die waren selten wirklich greifbar. Damals gab es noch keine bzw. hat sich das dann entwickelt, dass es direkt Anlaufstationen gibt. Das ist heute besser. Das heißt, es gibt Beratungsstellen für Betroffene von rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt, die beraten, psychosozial beraten, die juristisch beraten, die auch bei dem Gang zur Polizei beispielsweise unterstützen. Ich oder eher wir haben damals die Unterstützung oder den Zusammenhalt erfahren von Anderen, die die Erfahrung auch schon gemacht haben – die sie teilweise in den 1990er Jahren noch extremer erfahren haben. In der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, wurde ein Parkwächter von Nazis umgebracht, fünf oder sechs Jahre bevor ich dann dort zur Schule gegangen bin und dort unterwegs war. Also das war etwas, was wirklich über viele Jahre präsent war. Das heißt es gab auch Erfahrung, es gab dann auch Orte, die sich geschützt haben, alternative Jugendzentren, die Strategien entwickelt haben, sich irgendwie zu behaupten und damit umzugehen. Aber aus den Regelinstitutionen kam sehr wenig Unterstützung.

Würdest du sagen, dass die Unterstützung, die du bekommen hast, das war, was dir Kraft gegeben hat, das überhaupt durchstehen zu können?

Ja, das hat geholfen, weil sonst hätte ich ja meine Identität aufgegeben. Also, ich hätte mich auch einfach anders anziehen können und sozusagen mich dem gewaltsamen Konformitätsdruck beugen können. Und das hätte ich sicherlich nicht gemacht, wenn nicht die Gemeinschaft der Jugendclique so stark gewesen wäre und da Unterstützung oder auch „Jetzt erst recht!“- Trotzreaktion nochmal verstärkt hätte, bis hin zur Bestätigung aus Musik, aus dem weiteren familiären Umfeld. Das war dann natürlich so etwas wie eine pubertäre Trotzreaktion, also: „Wenn das hier so ist wie es ist, so kann das nicht bleiben, so darf das nicht bleiben. Da muss man doch was ändern.“ Das hat mich natürlich auch dazu geprägt mich im Studium, in der Forschung überhaupt damit zu beschäftigen. Aus der Betroffenheit heraus das zu tun, was jetzt viel mehr getan werden kann als damals, nämlich offen, öffentlich, kritisch und auch in einer sozusagen „Problem benennenden“ Art und Weise überhaupt drüber zu sprechen.

Würdest du sagen, dass das schon maßgeblich der Grund ist, warum du heute das machst, was du machst?

Also, es war zumindest ein Auslöser, mich damit auseinanderzusetzen. Ich denke, dass ich diese Zeit für mich aufgearbeitet habe und da jetzt auch keine Rachegelüste oder irgendwelche Verklärungen passieren. Aber es sind natürlich Erfahrungen, die dazu führen, dass ich der Meinung bin, dass ich Menschen, die auch von Rassismus betroffen sind, oder die schlechte Erfahrung mit der Polizei machen, in der Art und Weise auch empathisch anders nachvollziehen kann, weil ich natürlich die Gefühle zumindest annähernd nachvollziehen kann oder selber empfunden habe und diese Ohnmacht nachvollziehen kann. Ich kann das dann hoffentlich über methodische Reflektion nochmal sortieren, einordnen und auch abgleichen. Sozusagen: „Wie war das anders? Was hat der Staat dann eben doch auch gemacht? Wo gab es Dinge, die ich vielleicht auch einfach nur nicht mitgekriegt habe, oder nicht wusste in der Thematisierung?“ Also das auch kritisch zu beleuchten. Aber man sucht sich so ein Themenfeld nicht aus, wenn man nicht in irgendeiner Weise davon betroffen ist, dazu ist es dann doch auch zu unschön.

Wenn du jetzt an die Zeit zurückdenkst, was hättest du dir anders gewünscht, wenn du es verändern könntest – also unabhängig davon, dass die Gewalt natürlich passiert ist, aber vielleicht im Umgang damit?

Ich hätte mir gewünscht, dass es gesellschaftlich ernst genommen wird, dass es so etwas gibt wie Kampagnen, wie eine öffentliche Aufklärung, eine Thematisierung. Ich weiß, dass damals die Zeitschrift Stern angefangen hat, sich dem anzunehmen, verstärkt darüber zu berichten und dann Aufkleber zu produzieren und sowas. Das fanden wir total super, weil das war irgendeine Form von „Wir kommen raus aus unserer Nische der Bedeutungslosigkeit. Da gibt es Leute aus dem Establishment, die sich damit auseinandersetzen und beschäftigen.“ Also überhaupt eine Stimme zu haben, wahrgenommen zu werden, dass das Problem erkannt wird und nicht immer abgetan wird, als „Das gibt es doch gar nicht“ oder „Ihr seid ja selber schuld“ oder „Das ist eben so“ Ohne, dass das die Gewalt besser macht, aber es führt zu anderen Umgangsmöglichkeiten, anderen Verarbeitungsreaktionen, wenn man merkt, dass man damit nicht allein ist und dass das ein gesellschaftliches Problem ist und die Gesellschaft, die dieses Problem hervorbringt, sich dem auch annimmt.

Diese Art von Gewalt gibt es leider immer noch. Gibt es irgendwas, was du anderen Personen, die sich gerade in so einer Situation befinden, mitgeben wollen würdest?

Ihr seid nicht schuld! Das ist das Zentrale. Wer angegriffen ist, hat nie Schuld. Wer vergewaltigt wird, egal was die Person angehabt hat, ist nie schuld daran. Es sind immer die Aggressoren schuld. Und das darf man nie aus den Augen verlieren, dass man sich diese Zum-Opfer-Machung, dass man die nicht internalisiert, dass man sich dann nicht selber als schuldig oder als Opfer ansieht. Die Aggressoren und die Schuldigen, das sind die Anderen und nicht diejenigen, die zum Opfer gemacht werden. Das ist das Zentrale: Das zu verstehen und das zu wiederholen und sich dann mit anderen zusammenzutun, darüber zu sprechen, sich Sprachrohre zu suchen, die Beratungsstellen, die es in allen Bundesländern mittlerweile gibt, anzunehmen, zu nutzen, um sich in eine Position der Wehrhaftigkeit zu bringen. Und dann auch Dinge einzufordern, politisch einzufordern vom Staat, vom sozialen Umfeld, von denjenigen die dafür zuständig sind, Probleme zu bearbeiten, zu lösen.

Das war ein sehr bildhafter, realer Einblick in die Erfahrungen eines Betroffenen von rechter Gewalt. Wenn du selbst solche oder ähnliche Erfahrungen gemacht hast – oder eine betroffene Person kennst – stehen dir die hier hinterlegten psychologischen Ansprechpersonen jederzeit gerne zur Seite. Sie unterstützen dich ebenfalls gerne, wenn du über die Einblicke, die du hier gewonnen hast, sprechen möchtest.
Dieser Artikel wurde von Evermood erstellt und zuletzt am aktualisiert.